Architekturen des Wartens

Kunst wider die Leer-Räume

Zerschlagene Glasbausteine einer Bushaltestelle, durch die von bizarren Bruchzacken gesäumten Quadrate fliegt der Blick in weites mecklenburgisches Wiesenland, durch einen Streifen Asphalt nur flüchtig gestört. Eine graue Blechwand voller Nazisprüche, wohl auch ein Wartehäuschen. „Komm zu uns“, hat eine ungelenke Hand mit Farbe oben drüber gesprüht. „Schäbige Objekte“ nennt Franz Riegel seinen Bilderzyklus zu sehen in der am Sonnabend im Lübecker Speicher eröffneten Kunstausstellung „Art der Provinz“. Es sind aufreizende Fotos, und weil sie so „unkünstlich“ daherkommen, so scheinbar profan und nüchtern, sind sie es umso mehr. Wieder einmal erweist sich der sensible, unverstellte Blick des Zugereisten als Vehikel, dem Betrachter die Augen zu öffnen. Schäbige Objekte: Entwurzeltes in einer Kulturlandschaft, die viele Brüche in ihrem Dasein noch lange nicht verwunden hat. Und neue Leerräume wachsen. Ein Land entsiedelt sich. Mecklenburg. Ein Sommermärchen? Nicht nur das.

Thoralf Plath, Nordkurier vom 17.04.2013


In Hohes Feld beginnt die Welt

Die Fotografien zeigen die verschiedene Architekturen des Wartens in der mecklenburgvorpommerschen Provinz, deren Beziehung zur umgebenden Landschaft, das Durchdrungensein des verwendeten Materials von Natur, Verwitterungsprozesse sowie Aneignungsspuren durch Menschen. Die Verlorenheit der kleinen Bauwerke und Infrastrukturreste vor der Weite des Landes und des Himmels spiegelt eindringlich gesellschaftliche und demografische Veränderungen in einer sich durch Agroindustrie und Entsiedelung wandelnden Kulturlandschaft. Diese Bilder sind still, bewegungslos, ohne Menschen. Die Verlorenheit der kleinen Bauwerke und Infrastrukturreste vor der Weite des Landes und des Him­mels spiegelt eindringlich gesellschaftliche und demografische Veränderungen in einer sich durch Agroindustrie und Entsiedelung wandelnden Kulturlandschaft.

In Hohes Feld beginnt die Welt

Hüben und Drüben

Eine Buslinie ist jeweils durch zwei Destinationen markiert. Die Buswartehäuschen liegen an der Strecke zwischen diesen Punkten. An viel genutzten Straßen habe sie ein Gegenüber, eines, wo man auf den Bus in die andere Richtung warten kann. An gering frequentierten Strecken, zum Beispiel auf Nebenstraßen, gibt es oft nur eine einzige Haltestelle, die beiden Richtungen dienen muss. Buswartehäuschen stehen meist parallel zur Straße und öffnen sich zu dieser, damit die Wartenden direkt in den Bus steigen können. Vor der Ankunft und nach der Abfahrt des Busses gewähren die Türausschnitte also einen Blick nach drüben, auf die andere Seite.
Gegenüber zeigt sich das Land, in dem das Wartehäuschen steht, und erzählt uns etwas über die Orte, an denen das einzelne aufgefunden wurde. Den Elementen, den Jahreszeiten ausgesetzt, wird der Blick häufig über Acker- und Waldflächen gelenkt, die manchmal durch Strommasten oder Silhouetten von Silos gegliedert sind.
Hier sind wir und stehen allein vor einer großen Weite. In den Bildern dieser gegenüber liegenden Seite zeigt sich das Land Mecklenburg- Vorpommern. Drüben stehen uralte Kirchen, leer gezogene Plattenbauten, verlassene verrottende LPG-Gebäude, Ruinen von Gutshäusern oder herrliche sanierte Schlösser aber auch Äcker, Wiesen, Monokulturen und Brachen.

Durchblicke

Übergänge und poröse Raumgrenzen machen das Wesen eines Raumes ebenso aus, wie die harten Grenzen der Architektur selbst. In den Durchblicken auf die Landschaft, schiebt sich das jeweils genutzte Material vor den Landschaftsraum und filtert den Blick auf diesen. Es finden sich farbige Gläser, Stegplatten, von Flechten und Moosen bewachsene Glasflächen, aber auch Rostlöcher, bröckelnde Fensterlaibungen, die den Blick auf eine neue Welt freigeben. Die Natur dringt in den Schutzraum ein, optisch, in dem der Warteraum nur durch Glas vom außen geschieden ist, oder ganz gegenständlich, in dem Pflanzen den Innenraum erobern. Neben der klassischen Anmutung der Ruine, die vom Urwald zugedeckt wird, zeigen sich hier auch bizarre abstrakte temporäre Bilder. Je nach Lichteinfall, je nach Verschmutzungs- Verwitterungs-, oder Zerstörungsgrad der Materialien entstehen flüchtige Kunstwerke von intensiver Leuchtkraft oder filigraner Schönheit, die nur noch entfernt eine Assoziation zum Ort Buswartehäuschen zulassen.

Ausblicke

Die meisten Wartearchitekturen öffnen sich zur Haltestelle, sei es durch einen Türausschnitt oder bei Unterständen durch das Fehlen einer Wand. Viele haben auch Fensteröffnungen, die seitlich oder vorn den Blick auf die Straße ermöglichen. Einerseits sind die Wandöffnungen funktional. Sie ermöglichen den Zutritt zum Schutzraum, lassen Tageslicht in diesen hinein und zeigen dem Wartenden an, wann der Bus sich nähert. Meist sind diese als einfache rechteckige Ausschnitte konstruiert. Aber es gibt auch andere geometrische Fensterformen, wie Kreise, Rauten und auf der Spitze stehende Quadrate, die teilweise noch mit Stegen versehen sind. Hin und wieder finden sich farbige Fenstergläser oder Intarsien aus farbigen Glasbausteinen.
Ausblicke, die sich hier bieten, sind so architektonisch fixiert und gerahmt. Die umgebende Natur wird gefasst durch die Geometrie des Ausschnitts im Raumkörper. Während in der Malerei und Architektur der Renaissance in Fensterbildern Natur als schöne Idealgegend inszeniert wird, verdichtet sich in den hier gezeigten Aussichten und Fensterbildern das Nebeneinander von leerer Straße mit Landschaft und kahlen, abweisenden Interieurs zu beklemmenden Metaphern der Verlorenheit. Zerborstene Scheiben, abgeblätterte Wände, dunkles Innen und helles Außen, enge Umschlossenheit und der Blick in eine schier unendliche Weite verstärken den Eindruck autistischer Nichtbezogenheit ebenso wie die durch die Rahmung erzeugte Tiefe des Ausblicks.

IN HOHES FELD BEGINNT DIE WELT

– eine Aufschrift, die Franz Riegel an einem Buswartehäuschen in der Nähe von Neustadt-Glewe entdeckte, steht für die Grundidee seines Bildbandes, eines fotografisches Portraits des Hinterlandes Mecklenburg-Vorpommerns. Franz Riegel, Weltreisender und Fotograf, ist dafür mit seiner Kamera auf Nebenstrecken bis in die hintersten Winkel des Landes, in dem er seit 2005 lebt, gereist, um noch funktionstüchtige, verfallene oder aufgegebene Buswartehäuschen aufzuspüren.

In Hohes Feld beginnt die Welt

Umherstreifen, beobachten und verweilen, dokumentieren und beschreiben, das Handwerkszeug der Ethnologie und Sozial­anthropologie, sind für ihn Lebenshaltung und Quelle seiner fotografischen Arbeiten – auch vor der eigenen Haustür. So entstanden Fotografien, die verschiedene Architekturen des Wartens in der mecklenburgvorpommerschen Provinz, deren Beziehung zur umgebenden Landschaft, das Durchdrungensein des verwendeten Materials von Natur, Verwitterungsprozesse sowie Aneignungsspuren durch Menschen zeigen. Diese Bilder sind still, bewegungslos, ohne Menschen. Die Verlorenheit der kleinen Bauwerke und Infrastrukturreste vor der Weite des Landes und des Him­mels spiegelt eindringlich gesellschaftliche und demografische Veränderungen in einer sich durch Agroindustrie und Entsiedelung wandelnden Kulturlandschaft.