Abseits von Neonlicht

Malen mit Licht

Text Dr. Brigitte Arend

Zum einen geht es bei Fotografie, was im ursprünglichen Wortsinne ja „Malen mit Licht“ bedeutet, immer um den Umgang mit Licht. In den hier versammelten Arbeiten verzichtet Franz Riegel weitgehend auf künstliches Licht.  Er spürt Nuancen und Stimmungen nach, die jeweils durch wechselnde Lichtverhältnisse in der Landschaft oder an vielfältigen Materialien der baulichen Umwelt hervorgebracht werden. Dabei widersteht Franz Riegel bewusst den Möglichkeiten der digitalen Fotografie, die mit nie gekannter Schärfe und vielfältigen Filtern Leuchtkraft, Farben und Tiefenwirkung beliebig verändern könnte.
Wo Erdoberfläche und Atmosphäre aufeinander treffen, entstehen Niederschläge, die im Streulicht in Form von Dunst und Nebelschwaden sichtbar werden. Wassertröpfchen reichern sich mit Partikeln und Gasen aus der Umgebung an, lösen sich wieder auf und transformieren sich zu etwas Neuem. Die Elemente Land, Wasser und Luft durchdringen einander in flüchtigen Phänomenen, die im Wechselspiel des Lichtes changieren. In den ätherisch anmutenden fotografischen Arbeiten der Serie Diffundere verschwinden Konturen, lösen sich in eigenartigen Farben und Licht auf. Manchmal gleichen die zarten Durchdringungen und impressionistischen Lichtmalereien entfernt Erinnerungen an Wolken oder an von Nebel­schwaden überlagerte Landschaften und Pflanzen. Aber im nächsten Moment sind diese Gewissheiten wieder dahin.­­
Diese Lichtmalerei findet sich auch in einzelnen Fotografien der Werkgruppe In Hohes Feld beginnt die Welt. Franz Riegel hat Durchblicke aus Buswartehäuschen auf die Landschaft fotografiert. Das jeweils genutzte Material schiebt sich vor den Landschaftsraum und filtert den Blick auf diesen. Farbige Gläser, Stegplatten, von Flechten und Moosen bewachsene Glasflächen geben den Blick auf eine neue Welt frei und lassen bizarre abstrakte temporäre Bilder entstehen. Je nach Lichteinfall, Verschmutzungs- Verwitterungs-, oder Zerstörungsgrad der Materialien entstehen flüchtige Kunstwerke von intensiver Leuchtkraft oder filigraner Schönheit, die nur noch entfernt eine Assoziation zum Ort Buswartehäuschen zulassen.

Auf dem Land leben

Neonlicht lässt sich metaphorisch auch als Bild für urbane Räume lesen, wie es sich in unzähligen Chansons, Schlagern und Großstadtlyrik finden lässt. Großstadt bedeutet neben Menschenmassen, Trubel, Konsum vor allem Lichter, oft Leuchtreklamen, früher aus farbigen Neonröhren, heute aus LED. Der Titel „Abseits von Neonlicht“ verweist so auch auf die Orte und Sujets dieser Bilderwelten von Franz Riegel, die in der Provinz, im Hinterland der Metropolen entstanden sind.
Landleben und der Begriff vom Land ist in Deutschland vornehmlich mit Vorstellungen zu vorindustrieller Weide- und Landbewirtschaftung, glücklichen Kühen und herrschaftlich restaurierten Gutshäusern verknüpft und bedient sich dekorativ aus dem Bilderbogen der Freiluftmuseen. Auf dem Land leben erschöpft sich allerdings nur am Rande in Restaurierung und Inszenierung idyllischer Nischen von neu angelegten Streuobstwiesen an zu modernen Landhäusern umgebauten Ställen. Im Hinterland, abseits des Neonlichts, herrschen tatsächliche konkrete Arbeits- und Lebensverhältnisse, die oft mit Ressourcenraubbau, sozialer Chancenungleichheit, Entsiedelung, Abkoppelung von technischem Fortschritt oder einfach mit ästhetischen Verwerfungen in der Folge eines Mangels an Diskurs oder eines Mangels an Geld und Materialien zu tun haben. Franz Riegel erarbeitet sich fotografische Positionen zu diesen ländlichen Lebenswelten.
In verschiedenen seriell-dokumentarischen Arbeiten erzählt er, was diese ausmacht: Endlose Monokulturen, private Vorgärten und ihre Zäune, Fassaden von Plattenbauten, Biogasanlagen, Leerstand in den Kleinstädten, aufgegebene Infrastrukturreste sowie Werbemittel auf dem Land erzählen von der sozialen und ökonomischen Realität des Lebens im Hinterland jenseits der Landlust-Magazine.
Die Verlorenheit der verfallenden Bauwerke und Infrastrukturreste vor der Weite des Landes und des Himmels, etwa in der Serie der Buswartehäuschen In Hohes Feld beginnt die Welt spiegelt eindringlich gesellschaftliche und demografische Veränderungen in einer sich durch Agroindustrie und Entsiedelung wandelnden Kulturlandschaft. Diese Bilder sind still, bewegungslos, ohne Menschen. Sie sind Metaphern für das, was auf dem Lande vor sich geht. Franz Riegel hat aber auch einen Blick für das Schräge. Und er hat 30 Jahre in der Werbung gearbeitet. Daher hat er von Beginn an fotografisch auch Werbeträger und Werbemittel im ländlichen Raum gesammelt. In der Werkgruppe Kleine Dinge versammelt er Fotografien von Figuren, Aufklebern, Schildern, die oft seltsam aus der Zeit gefallen wirken, einfach schräg sind oder deren Sinn sich nicht erschließen will. Was sagt das Schielen des Kochs über die Speisenauswahl aus? Warum würzt und verspeist sich das Hotdog selbst? Warum wurde die Eisreklame ausgerechnet am After einer Sau angebracht? Dabei will Franz Riegel nicht vorführen, nicht spotten. Ihn interessieren und berühren Anmut und Würde des Unvollkommenen.
Dies zeigt sich auch in seiner Arbeit über Zäune. All diese Zäune, die er im Laufe der Jahre auf seinen Streifzügen in der Region aufgespürt und fotografiert hat, sind mehr oder weniger professionell von Hand gearbeitet. Sie sind einzigartige Zeugnisse der DDR-Alltagskultur. Sie geben Beispiel von der Meisterschaft im Organisieren, Tauschen und Selbermachen, von der Kunst des Wiederverwertens und Umwidmens, von schöpferischem Gestaltungswillen, von der Lust am Verschönern und vom Stolz auf das Erschaffene. Sie sind jeweils kleine Kunstwerke und sie sind Denkmäler des Trotzdems.

Fliehende Zeit

Franz Riegels Entscheidung, in der Provinz abseits von Neonlicht zu leben, hat Implikationen für seine Arbeitsweise, für die Themen und die Bildsprache, die sich in seinem fotografischen Werk entwickelt haben, seit er sich nahe einer alten Slawenburg in Klein Markow angesiedelt hat.
Er hat zunächst in der quirligen hektischen übervollen Großstadt München gelebt , ist fast um die ganze Welt gereist und ist Wildwasser gepaddelt. Aus der Bewegung, dem Tempo kommend, ist er in der ruhigen abseitigen Stille gelandet, wo scheinbar nicht viel passiert. Hier gibt es nur wenige Reize. Nichts drängt sich laut und farbig auf. Die Zeit dehnt sich, wirft ihn auf sich selbst zurück. Zugleich wird in der Fülle der Lebenserinnerungen die Flüchtigkeit der Zeit deutlich. Seither hat er sich künstlerisch immer wieder mit dem Phänomen Zeit, Wandel und Veränderung auseinander gesetzt.
Beheimatung bringt es – anders als Reisen – mit sich, immer wieder den selben Orten und Objekten zu begegnen oder diese aufzusuchen. Dabei wird der Blick genauer. Franz Riegel beobachtet und nimmt die Nuancen auf, die sich durch den Wechsel der Jahres- oder Tageszeiten, Wetterphänomene oder einfach dem Zahn der Zeit ergeben. Es entsteht ein zunehmend serielles Arbeiten. Es entstehen Detailaufnahmen von Verwitterungen oder Zerstörungen an Materialien. Er widmet sich der, „sanfte(n) aber unaufhaltsame (n) Verrottung der Dinge, die von der synthetischen Gesellschaft als Waren hervorgebracht wurden“, wie Alfred Sohn Rethel in seinem Essay „Das Ideal des Kaputten“  schrieb. Er spürt zerstörte und restaurierte Überreste vergangener Epochen auf. Über die Verlängerung von Belichtungszeiten kommt es zu Bewegungen und Verwischungen in den Bildern.
Bei seiner Ankunft auf seinem Hof in Mecklenburg-Vorpommern legte sich Franz Riegel auf einer übrig gebliebenen Betonfläche einen Spiegel zu Füßen, den er über Jahre den Elementen aussetzte. Den langsamen Prozess der Verwitterung, die Flüchtigkeit der Spiegelungen, die stetige Veränderung von Farbe, Konsistenz und Formenspiel dokumentierte er fotografisch und verarbeitete diese Fotografien später unter dem Titel Fliehende Zeit zu digitalen Bildern, die Zeit als Fluss steter Veränderung sichtbar machen.

Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur

Abseits (von Neonlicht) zu leben schärft nicht nur Franz Riegels Wahrnehmung, es verändert zunehmend sein Bewusstsein. Es gibt wenig Ablenkung, wenig Überformungen. Alles ist langsamer. Man kann sehen und fühlen was ist. Das verlangt, auch künstlerisch fotografisch Position zu beziehen.
Von Alexander Humboldt ist überliefert, dass er beim langsamen Aufstieg auf den Cimborazzo erkannt habe, dass alles mit einander zusammenhänge und in Wechselwirkung stehe. Dieser Katalog wurde in Coronazeiten zusammengestellt, was diesen Zusammenhang, diese Wechselwirkung, nochmals eindrücklich offenbart: “Der Ausbruch des Covid-19-Erregers war kein unglücklicher Zufall. Artensterben, Naturzerstörung und Klimawandel erhöhen das Risiko, dass neue Seuchen von Tieren auf den Menschen überspringen. Die Mechanismen der Evolution haben die Seuche hervorgebracht, der Mensch hat nachgeholfen.“ schreibt Philip Bethge in seinem Artikel „Gefahr aus der Höhle“ in DER SPIEGEL 04.04.2020 .
Franz Riegel arbeitet vornehmlich abseits, draußen in der mecklenburgischen Weite, dort, wo er das Wechselspiel der Elemente mit der Landschaft aber auch die Folgen von Eingriffen des Menschen in die Ökosysteme unmittelbar beobachten und erleben kann. Im Kapitel Wechselwirkungen sind Arbeiten aus den Serien Topografie, Diffundere, In Hohes Feld beginnt die Welt sowie aus den Werkgruppe borderlines und Klimasichten vereint. Diese Arbeiten sind Reflexionen über Raum, Zeit, Zusammenhänge und letztlich vor allem Verantwortung.
In der Serie Topographie etwa werden die enormen Veränderungen der Landschaft durch agroindustrielle Nutzung offenbar. Es sind neue Wüsten entstanden, die eiszeitlich geformten Oberflächenreliefs liegen wieder nackt da. Das kann sehr ästhetisch sein. Wüsten sind atemberaubend weit und schön, aber eben auch lebensfeindlich. Die Folgen der menschengemachten Erderwärmung zeigen sich deutlich „im eigenen Vorgarten“.
Die Werkgruppe borderlines entstand als kritische künstlerische Position auf die Ankündigung des Agrarministeriums, Fleischproduktionsanlagen mit einer Anzahl von – im Jahr 2008 unvorstellbaren – 30.000 Tieren zu genehmigen. Das Produkt Fleisch ist durch die verbreitete industrielle Massentierhaltung von der Kreatur, deren Teil es war, vom Produktionsprozess, der industriellen Vernichtungsmaschine in den Schlachthöfen und deren Implikationen getrennt worden. Ein Stück Fleisch ist für die meisten Menschen heute ein leckeres Nahrungsmittel aus dem Supermarkt. Die Mastanlagen und Schlachthöfe werden schamhaft abgespalten. In mehreren Bildern dieser Werkgruppe hat Franz Riegel sich mit der Ökonomie von Masse und Raum beschäftigt. Verschiedene Flächen wurden unterschiedlich gefüllt: Als amorphes Gewühl, in militärisch akkuraten Clustern angeordnet, als unendliches Raster geklonten Materials und als fast pulsierendes Meer von gefängnisartigen Metallgittern, hinter denen die Kreatur nur zu erahnen ist. 30.000 Schweine. Masse erzeugt hier Distanz, auch Ästhetik durch verschiedene Muster, die die Anordnung der Schweine im Raum ergibt. Das langsame Füllen der Fläche, die Berührung jedes einzelnen Objektes – Riegel arbeitet mit industriell gefertigten Plastikschweinen, die er im Raum anordnet und fotografiert – ist dabei einerseits Widerspiegelung der repetitiven Mechanisierung der Produktion im künstlerischen Prozess, aber auch Ausdruck des Respektes vor dem Lebendigen.
Aus den hintergründigen, eher abstrakt – grafisch anmutenden Fotografien der Werkgruppe Klimasichten wurden für dieses Kapitel die drei Arbeiten „Unser Haus steht in Flammen“ und „Ende der Eiszeit1 und 2“ ausgewählt. Ein lebloses, vergiftetes Meer, das unerbittlich steigt. Mitten im Müllteppich ein Schiff, oder eine Hallig, vielleicht auch ein Krokodil. Weit hinten eine rostige, längst überspülte Stadt…
„Die Welt brennt. Und wenn ich mich beschämt mit einer vagen Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu rechtfertigen und zu beschwichtigen suche, höre ich die 16jährige Greta Thunberg sagen: “Ich will eure Hoffnung nicht. Ich will, dass ihr in Panik geratet. Ich will, dass ihr die gleiche Angst habt, die ich täglich verspüre, und dann will ich dass ihr handelt. Denn unser Haus steht in Flammen.“ sagt Franz Riegel dazu.
In den Fotografien „Ende der Eiszeit 1 und 2“ erzählt er die Geschichte des schmelzenden Eises mit Eiskristallen und Holunderblüten auf einem alten Spiegel und mit Spiegelungen am Eisbrecher Jantzen. 1968 bis 2005 tat der zur Zeit seiner Kiellegung zweitgrößte Eisbrecher Deutschlands seinen Dienst. Heute liegt die Stephan Jantzen ausgemustert im Stadthafen Rostocks. Die Arktis brennt, die Gletscher schmelzen, es gibt kaum noch Eis zu brechen. Auch in diesen abstrakten Bildern verdichtet sich die Auseinandersetzung des Fotografen Franz Riegel mit dem rücksichtslosen Ressourcenverbrauch.

Menschen und Tiere

„Abseits von Neonlicht“ setzt sich schließlich damit auseinander, wie eine Darstellung von Menschen und Tieren jenseits der YouTube-Inszenierung und der Studioausleuchtung der Fotografien für Hochglanzmagazine in der Begegnung zwischen Fotograf und Kreatur gelingen kann. Auf den Fotografien aus den Serien Wir wünschen einen sanften Tod und Milk, milk,milk , die für dieses Kapitel ausgewählt wurden, sind Nutztiere zu sehen, deren jeweilige Eigen- und Besonderheit aber auch Würde ebenso zur Geltung gebracht werden, wie die von Menschen in der klassischen Portraitfotografie. Franz Riegels Position bezieht den inhärenten Verwertungsaspekt im Verhältnis des Menschen zum Tier ein. Er zeigt uns, dass es verschiedene Methoden (Brechen, Brennen, Züchten) gibt, Kühe ihrer Hörner zu berauben oder dass die Imagination der glücklichen Kuh nur Wunschvorstellung ist. Tatsächlich ist diese meist eine hochgezüchtete Kreatur, die an einem zu schweren Euter und vielfältigen Folgeerkrankungen leidet.
Ergänzt werden diese Arbeiten durch Fotografien aus den Werkgruppen Hausschlachtung und Portraits aus dem ländlichen Umfeld. Franz Riegel zeigt Menschen, in der jeweiligen Umgebung, in der er sie getroffen oder mit den Dingen, die sie ausgemacht. Es gibt Bilder von Menschen in der Region, die andernorts bereits ausgestorbene vorindustrielle Formen der Selbstversorgung betreiben, in dem sie Hühner, Gänse und eben auch ein Schwein halten und schlachten. Haltung und Mimik der Menschen drücken das Bemühen aus, es respektvoll und gut zu machen. Die archaisch anmutende Szenen machen uns zu Zeugen vergessener Riten und vortechnischer Wirtschaftsweisen. In den Gesichtern spiegeln sich Stolz, Schalk, Erstaunen, ihre Geschichte und Persönlichkeit.
Dagegen spielt Franz Riegel in den Portraits von Museumspuppen aus der Serie Es gibt kein richtiges Leben im falschen mit dem Kontrast zwischen urbanen Gesichtern sowie Posen zeitgenössischer Schaufensterpuppen und den authentischen historischen Kleidern und Alltagsgegenständen. Es findet eine Verkehrung statt. Die Gesichter der Puppen wirken fast echt, weil wir sie von unzähligen Selbstinszenierungen und Selfies auf Instagram oder als Typen aus Glamourmagazinen kennen, während die alten Kleidungsstücke, etwa der Flüchtlingsfrauen nach dem 2. Weltkrieg, plötzlich wie falsche Requisiten erscheinen. Diese Fotografien können sowohl als Positionen zum Umsichgreifen von Entfremdung und Umdeutung von Geschichte wie als Hinweis auf emotionale Untiefen zeitgenössischer Selbstinszenierung im Netz gesehen werden.

Yugen

Der Titel „Abseits von Neonlicht“ verweist schließlich auf einen weiteren Aspekt in Franz Riegels fotografischer Position, der sich in der Stille Mecklenburgs, wo er vom Wildwasserpaddeln zum TaiChi gefunden hat, entwickelt. Auf dem Weg vom dokumentarischen zum seriellen, konzeptionellen und schließlich zum abstrahierenden Arbeiten finden zunehmend Vielschichtigkeit, Transzendenz, Unsichtbares, Spiritualität und Tiefe Eingang in seine fotografischen Arbeiten.
Im Kapitel Yūgen sind Fotografien zusammen gestellt, die Kompositionen aus Spiegelungen, verwitterten Stoffen, im Nebel sich auflösender Konturen, Reflexionen zu Wasser und Wolken sowie andere zunehmend abstrakte, scheinbar gegenstandslose Fotografien vereinen.
In der Begegnung mit Heinrich und Mitsuko Radeloff und durch sie mit japanischer Kunst lernt er den Begriff Yūgen kennen. Er entstammt der japanischen Ästhetiklehre und ist mit Konnotationen des Geheimnisvollen, Dunklen, auch von Geist und Totenreich sowie der innerweltlichen Tiefe der Welt und des Universums verbunden. Der Zenmönch Kamo no Chōmei (1153/55–1216) drückt es so aus:
Schaut man durch den Nebel auf die herbstlichen Berge, dann ist die Sicht unscharf und doch von großer Tiefe. Auch wenn man nur wenige Herbstblätter sieht, die Ansicht ist reizvoll. Die unbeschränkte Aussicht, welche die Vorstellung hervorbringt, übersteigt alles, was man klar sehen kann.“

Erstmals entstehen solche Fotografien im Rahmen des Projektes Fliehende Zeit. Die Bilder dieser Serie sind gegenstandslos, durchscheinend. Je nachdem, auf welche Ebene das Auge akkommodiert, treten andere Strukturen und Farben zu Tage. Die Tiefe der innerlichen Welt aus Erfahrung und Erinnerungen lässt vor dem inneren Auge etwa Wasser in der Wüste entstehen. „Ich sehe gleichsam das Wasser unter dem Stein schimmern, bevor es in den Schluchten des Draa anschwillt zu einem Fluss, unter dessen Blau, indem sich das Tuch des Tuareg und der Himmel spiegeln, die Wüste hindurch scheint, bis er dort wieder versickert, wo die Kashbas stehen. „Werden und vergehen“, sagt Franz Riegel, wenn er in den maroden sich auflösenden Spiegel und die Reflexe des Sonnenlichts auf den Resten der Silberschicht unter der zerbrochenen Glasscheibe blickt.