




Danke an Jutta Höckendorf für die Fotos von der Vernissage
Reflexion und Resonanz
Einleitende Worte zur Ausstellungseröffnung von Eberhard Rogmann
Humor war gestern. Aus den Bildern von Franz Riegel ist er verschwunden. Keine Spur mehr von der feinsinnigen Ironie, die in dem Zyklus seiner Fotos von Zaunfeldern aufblitzte oder in der Ahnenreihe von Buswartehäuschen durchschimmerte. Betrachtet man die vorliegenden Arbeiten, ist der Bruch in der Handschrift des Künstlers offensichtlich. Alles Gegenständliche ist gewichen – man muss seine Phantasie strapazieren, um überhaupt eine Chiffre zu finden. Eine solche sollte es immerhin geben, denn Kunst allein um der Kunst willen ist die Sache von Franz Riegel nicht. Hie und da gibt er einen Hinweis, oft aber heißt es bei ihm lakonisch „Reflexion“.
In Spiegelungen sieht Franz Riegel eine kreative Herausforderung. Zweifelsohne eröffnen Spiegel uns ungeahnte Einblicke in die Welt. Der perfekteste Spiegel, den Menschen je schufen, befindet sich anderthalb Millionen Kilometer über unseren Köpfen. Es kostete zwei Jahrzehnte und zehn Milliarden Dollar, das James Webb Space Telescope zu bauen. Seine Spiegelsegmente sind mit einer unvorstellbaren Präzision auf weniger als ein Zehntausendstel Millimeter justiert. Seit anderthalb Jahren sendet die Sonde Bilder zur Erde. Was sieht man darauf? Fast nichts. Verwaschene gestaltlose Flecken in unterschiedlichen Grautönen, vereinzelt weiße Punkte. Erst eine umfangreiche Bearbeitung der Daten mittels raffinierter Computerprogramme bringt die faszinierenden Welten ferner Galaxien in brillanten Farben zutage.
Warum dieser Exkurs in die Astrophysik? Was hat das mit Franz Riegel zu tun? Kunst und Wissenschaft sind sich oft näher als es den Anschein hat. Die Wissenschaftler in Pasadena (California) und Franz Riegel in Klein Markow arbeiten auf vergleichbare Weise. Allerdings sind die reflektierenden Flächen, deren Bilder der Künstler einfängt alles andere als perfekt – schmutzige Scheiben, gesprungenes Glas, Pfützen und gekräuselte Gewässer. Dennoch könnte man auf den ersten Blick sogar sagen, ihre Ergebnisse ähneln sich. Die Bilder der einen wie des anderen sind einerseits Abbilder realer Objekte und dennoch „Kunstwerke“. Dies auch in dem Sinne, dass der Betrachter das sieht, was er versteht. Wie ein Sprichwort treffend feststellt, liegt das Bild im Auge des Betrachters. Wo ein normaler Mensch auf den James Webb Fotos nur bizarre Arrangements schillernder Farben wahrnimmt, finden Astrophysiker unschätzbare Informationen über die Frühzeit des Kosmos.
Was aber liegt den Bildern Franz Riegels zugrunde? Die Antwort lautet schlicht: Die Welt vor unserer Haustür. Wer erkennen will, muss aber mehr wagen als nur den analytischen Blick. „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Dies vertraut der Fuchs dem Kleinen Prinzen an in der bekannten Erzählung von Antoine de Saint Exupéry. Wagen wir also, uns ganz existentiell auf diese Bilder einzulassen, mit dem vollen Vermögen unserer Wahrnehmung. Mein Resultat ist wenig überraschend und doch beschleicht mich Beklemmung. Hier zeigt jemand die Erde im Begriff, ihr Gesicht zu verlieren. Strukturen lösen sich auf, Langgewohntes verschwindet, Altbekanntes verliert seine Verlässlichkeit. Das Auge findet keinen Haltepunkt, der Sinn suchende Blick keine Orientierung. Eigentlich wissen wir sehr gut, dass es -anders als die Glitzerwelt städtischer Konsumtempel und die Verlockungen einer schier erdrückenden Medienindustrie suggerieren – um den Planeten höchst bedenklich bestellt ist. Das zeigt sich selbst in dem vermeintlich weltabgeschiedenen Klein Markow. Man lege sich einmal an einem Sommertag auf eine Wiese – sofern man eine findet. Wer hinreichend alt ist, wird erstaunt sein. Kaum eine Spur von dem Gewimmel, Krabbeln, Flattern und Surren zahlloser Insekten, wie man es aus Kindertagen kannte. Verstummt sind das Quaken von Fröschen und die dumpfen Rufe der Unken, die einst im Frühjahr selbst noch im Stadtgebiet von Teterow zu hören waren. Goethes Faust kommt einem in den Sinn. Dieser wähnt in der emsigen Betriebsamkeit, die des Erblindeten Ohr vernimmt, sein Lebenswerk, mit neu gewonnenem Land den Wohlstand zu mehren, der Vollendung zustreben. In Wirklichkeit jedoch schaufeln die Lemuren sein Grab. Keine Hoffnung. Nirgends?
Goethe ließ zu Beginn der Moderne seinen Protagonisten seine Seele verwetten. Die Diagnose des Soziologen Hartmut Rosa von der Friedrich-Schiller-Universität Jena 200 Jahre später klingt weniger prosaisch. Der Mensch, so sein Fazit, hat seine Resonanzfähigkeit verloren. Er vermag keine „sprechende Beziehung“ zu seiner Umwelt zu finden. Pflanzen und Tiere, Steine und Gewässer, das ganze Sein in seiner Vielfalt ist verstummt. Leben wird ersetzt durch Konsum von Waren und Dienstleistungen. Das Hamsterrad von Wachstum und Innovation dreht sich immer schneller. Entrinnen kam ihm nur, wer sich wieder ganz existenziell auf die Dinge, Phänomene und Menschen seines Nahfeldes einlässt und wieder in Resonanz zu ihnen treten kann, meint Rosa. Damit ist nicht allein die meditative Stille gemeint. Resonanz kann eine starke vitale Energie entwickeln.
Mir steht das Bild einer schmächtigen jungen Frau vor Augen. Auf ihrer Gitarre schlägt sie einige Akkorde an und beginnt zu singen. Das einzigartige Timbre ihrer Stimme geht unter die Haut. „We shall overcome“ singt Joan Baez. Ihre Zuhörer nehmen die Worte auf, stimmen ein in einem gewaltigen Chor. Mehr als 200.000 versammelten sich am 28. August vor 60 Jahren bei dem Marsch auf Washington in gewaltfreiem Protest vor dem Lincoln-Memorial. In dem Lied heißt es: „Im Grunde meines Herzens glaube ich, we shall overcome one day“. Eine Verheißung oder purer Zweckoptimismus? Für mich weder das eine noch das andere. Vielmehr: Zuversicht.

DIE GROSSE BESCHLEUNIGUNG
Die industrielle Revolution beginnt um 1750. Deren destabilisierende Auswirkungen zeigen sich erst ab den 1950er Jahren. Ab hier schnellen etwa Bevölkerungswachstum, Verkehr, Energie- und Düngemittelverbrauch rasant in die Höhe. Diese „große Beschleunigung“ des Ressourcenverbrauchs zieht eine ebenso „große Beschleunigung“ negativer Auswirkungen auf das Lebenserhaltungssystem der Erde nach sich: die Konzentration klimaschädlicher Gase in der Atmosphäre führt zu einer massiven Überhitzung der Oberflächentemperatur. Biodiversitätsverlust und der Verlust von CO2 Speichern, wie Moore und Wälder, katapultieren uns in eine Situation, in der eine Überschreitung von Kipp-Punkten kurz bevorsteht oder bereits eingetreten ist. Wenn die Erde von einem selbstkühlenden System in ein selbsterhitzendes kippt, verlieren wir die Kontrolle.

MENETEKEL
Ein Menetekel weist in die Zukunft. Es ist Warnung, Mahnruf und ein Vorzeichen drohenden Unheils. Was, wenn die Grafitti auf unseren Wänden die Menetekel von heute sind? Was, wenn sich anhand dieser Zeichen Aussagen über unsere Zukunft treffen lassen? Welche Bedrohungen lassen die Prophezeiungen erahnen und welche zeigen sich schon jetzt? Ganze Länder und Regionen werden in absehbarer Zeit unbewohnbar. Das wird zu Hungersnöten, zu Gewalt und Kriegen führen. Der globale Migrationsdruck erhöht sich, das bisher Erlebte ist im Vergleich zu dem, was uns droht, nur ein bescheidenes Menetekel.

Was Wasser wert ist
Wasser ist eine gefährdete Ressource. Die zunehmende Erderhitzung zieht lebensbedrohliche Wasserknappheit und andernorts verheerende Überflutungen nach sich. Die Existenz aller Ökosysteme dieses Planeten und damit das Überleben der Menschheit ist gefährdet. Was Wasser wert ist, weißt du erst wenn du keines mehr hast. Oder zu viel davon. Verdursten oder Ertrinken – das scheint uns weit weg, wird aber heute entschieden.



Exemplarische Bildbetrachtungen
Dr. Brigitte Arend
Sperrwerk: zu wenig oder zuviel
Das Diptychon mit dem Titel „Sperrwerk“ steht exemplarisch für Franz Riegels fotografische Auseinandersetzung mit der menschengemachten Klimakrise. Im Zeitalter des Anthropozän leben wir ein Leben der unumkehrbaren Ressoucenvernichtung. Die Blindheit gegenüber langfristigen Folgen dieses Wirtschaftens wird durch die kurzfristige Akkumulation von Reichtum befördert. Der Planet erleidet einen immensen Anstieg von Klimagasen und verändert sich in nie dagewesenem Tempo. In der Folge gibt es beispielsweise entweder zuwenig oder zuviel Wasser, beides ist für Mensch und Ökosystem tödlich.
Beide Teile des Diptychons „Sperrwerk“ sind auf einander bezogen. Die Motive reflektieren technische Eingriffe zur Wasserregulation, die in den 60er Jahren – vermeintlich zum Wohle der Menschen – ausgeführt wurden, ohne jedoch langfristige Schäden an den Ökosystemen zu thematisieren. Beide Fotografien aus dem Jahr 2021 nehmen deren Aus- und Wechselwirkungen in abstrakten Bildkompositionen hintergründig in den Blick. Das malerisch anmutende, farbstarke Bild zeigt Reste eines Moortümpels bei Klein Markow. Dieses Moor wurde in den 1960er Jahren zur Herstellung landwirtschaftlicher Nutzflächen trockengelegt. In den abgebildeten Strukturen, seiner organischen Formensprache und Farbskala verweist die Fotografie einerseits auf die globale Dimension der Krise: Sie zitiert den Blick aus dem All auf den wasserreichen blauen Planeten Erde. Andererseits lenkt sie den Blick auf einen Moorrest im Agrarland vor der eigenen Haustür. Unter Silogras und Mais atmet das trockengelegte Moor Klimagase aus und befeuert so die Erderhitzung.
Die zweite, eher grafisch gestaltete Fotografie ist reduziert. Beton, Teer, Stein und Stahl versiegeln den Boden und türmen sich zu einem gigantischen Wall, der menschliche Siedlungen von den Fluten der Nordsee abschirmen soll.
Das Eidersperrwerk ist das größte deutsche Küstenschutzbauwerk. Sein Bau wurde 1967 begonnen, zur selben Zeit, als das Markower Moor trockengelegt wurde. Die lokalen Ökosysteme wurden und werden erheblich geschädigt und tragen zur Klimaänderung bei. Ob das Bauwerk bei steigendem Meeresspiegel und zunehmenden Stürmen seinen Zweck weiter erfüllen kann, bleibt fraglich.
Reflexionen sind im mehrdeutigen Sinne Widerspiegelungen der Welt. Physikalisch bezeichnen diese das Phänomen, dass reflektorisch wirksame Oberflächen etwa Wärme, Schall oder – was in der Fotografie konstituierend ist – Licht zurückwerfen. Andererseits wird der Terminus verwendet, um eine gedankliche Auseinandersetzung mit einem Thema zu bezeichnen. Der Mensch, der die Welt wahrnimmt, fasst diese in sprachliche Begriffe, stellt Zusammenhänge und Kausalitäten her, setzt sich zu diesen in Beziehung, reflektiert sie sensorisch und gedanklich und gelangt zu einem, manchmal auch kritischen, Bewusstsein.
Schließlich wohnt dem Reflektieren auch eine Art Symbolisierung inne. Ein Beispiel ist der stillgelegte Eisbrecher Jantzen im Rostocker Stadthafen. Franz Riegel stattet dem Eisbrecher immer wieder aufs Neue Besuche mit seiner Kamera ab. Das Objekt spiegelt den ökologischen und sozialen Wandel durch die Erderhitzung in besonderem Maße wider. Zum einen steht er für die Verbrennung fossiler Stoffe und hohen CO2-Ausstoß, als obsolet gewordene Technik steht er für deren Folge, die Erderwärmung, durch die es keine vereiste Wasserstraßen mehr gibt. Das Wasser im Stadthafen, dem Liegeplatz des Technikdenkmals, mit seinen Verschmutzungen spiegelt sich in seinem Schiffsrumpf, der Eisbrecher spiegelt sich im Hafenwasser. Die hier entstandenen Fotografien sind abstrakt, der Eisbrecher ist nicht erkennbar. Aber sie reflektieren für Franz Riegel den Zustand der Welt.